Mittwoch, 23. November 2011

Bomben in den Schuhen

In der ersten Klasse hatte ich eine Mitschülerin namens Corinna, mit der ich auch zusammen in einer Kindergartengruppe gewesen war. Eines Tages lud sie mich zum Spielen ein und ich nahm völlig naiv an. Wie hätte ich auch wissen können, dass sie mich durch die Hölle schicken würde?

Nachdem sie mir die Haustür geöffnet hatte, führte Corinna mich zielstrebig in ihr Zimmer und schloss die Tür. Dann trat sie ans Regal und zog ein Brettspiel heraus. „Das spielen wir jetzt“, sagte sie. Ernst schaute sie mir ins Gesicht. „Du musst immer machen, was ich will, ich hab nämlich Bomben in den Schuhen.“
Ich warf einen verstohlenen Blick auf Corinnas blaue Hausschuhe und schluckte. Mir war plötzlich kalt geworden.

Eine Weile beschäftigten wir uns mit den Spielsachen, die Corinna auf dem Fußboden ausbreitete. Fügsam befolgte ich Corinnas Anweisungen, bis sie aufstand, um aufs Klo zu gehen. Ich atmete tief durch. Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren. Ich schaute mich um und sah Corinnas Mutter ihren Kopf ins Zimmer strecken. Sie lächelte mich aus sanften blauen Augen an. „Weißt du, Corinna erzählt Märchen“, sagte sie leise und zwinkerte mir zu.
Bevor ich ausreichend Zeit gehabt hatte, über ihre Worte nachzudenken, stand Corinna wieder im Zimmer. Als hätte sie geahnt, dass ihr die eigene Mutter in die Parade zu fahren versucht hatte, holte sie mit entschlossener Geste eine Spielzeugpistole hervor. Ernst schob sie mir den Lauf entgegen. „Damit kann man wirklich schießen.“ Ich deutete ein Nicken an. Ich hatte verstanden.

Nach einer weiteren Spielrunde wurde Corinna ans Telefon gerufen. Sie sprang auf und lief aus dem Zimmer. Ich hielt den Atem an: Corinna hatte ihre Hausschuhe liegen lassen! Nervös lauschte ich in den Flur: Es waren keine Schritte zu hören. Ich nahm all meinen Mut zusammen und steckte meine rechte Hand in einen ihrer Schuhe. Leer. Außer einem kleinen Knubbel an der Stelle, an der auf der Außenseite eine Naht zu sehen war. Ich überlegte. War das die Bombe? So klein, aber trotzdem effektiv? Ich rieb mir die Nasenwurzel. Lieber auf Nummer Sicher gehen.
Corinna kam zurück ins Zimmer gelaufen. „Tanja kommt gleich vorbei, los, wir gehen jetzt nach draußen.“

Tanja kannte ich vom Sehen, und es stellte sich schnell heraus, dass auch sie unter Corinnas Fuchtel stand. Das tröstete mich ein bisschen. Mit den Worten: „Ihr  wisst, was sonst passiert“, beorderte Corinna uns in die Sandkiste. Auf ihr Geheiß stellten wir uns auf den Holzrand. „Los jetzt, balancieren“, kommandierte Corinna, „ihr wisst, was sonst passiert.“ Tanja und ich sahen uns ratlos an und setzten ergeben einen Fuß vor den anderen. Nach einer Weile gelang es Tanja, sich mit einer Ausrede vom Acker zu machen, und so führte mich Corinna wieder zurück in ihr Zimmer. Dort hatte uns Corinnas Mutter eine Schale Gummibärchen hingestellt. Ich nahm es als eine Art Schmerzensgeld und langte zu.

Endlich wurde es 18 Uhr, und meine Mutter holte mich ab. Plötzlich stand sie wie ein rettender Engel im Zimmer. Mir wurde ganz warm. Corinna legte neckisch den Kopf auf die Seite, streckte meiner Mutter ihre Spielzeugpistole entgegen und sagte in ihrer allerliebsten Kleinmädchenstimme: „Kuck ma, was ich hab!“
Auf einmal fiel alle Nervosität von mir ab, und nur eine Art verwunderte Verärgerung blieb. Corinna hatte sich enttarnt. Ich war danach nie wieder bei ihr zum Spielen.


Samstag, 19. November 2011

SciFi Religion

Vor ein paar Tagen habe ich Arthur C. Clarkes „Childhood’s End“ gelesen, das mich etwas unzufrieden zurückgelassen hat. Worum geht es darin?

In den 1950er Jahren tauchen am Himmel Raumschiffe auf. Zunächst schweigen die Aliens die Menschheit an und nehmen nur Kontakt zum UN-Generalsekretär auf, den sie aber auch über ihre Absichten im Unklaren lassen. Technisch hoffnungslos unterlegen, fügt sich Homo sapiens sapiens der außerirdischen Macht, den Overlords, die ihm helfen, den Kalten Krieg zu überleben.
Mehrere Jahrzehnte später passiert endlich, worauf die Overlords seit ihrer Ankunft auf der Erde gewartet haben: Jeffrey, ein siebenjähriger Junge aus New Athens im Südpazifik, verwandelt sich in ein höheres, der Telepathie fähiges Wesen. Bald folgen ihm die übrigen Kinder überall auf dem Planeten; sie verlieren jegliches Interesse an ihrer Umgebung und ihren Angehörigen. Jetzt lüften die Overlords endlich ihr Geheimnis: Sie sind von einem höheren Wesen, dem Overmind, geschickt worden, um den Evolutionssprung der Menschheit auf eine neue Seinsebene sicherzustellen und zu überwachen. Nachdem das gelungen ist, gilt es nur noch, die übriggebliebenen, im doppelten Sinne alten Menschen zu betreuen und generell zu gucken, was weiter passiert. Schließlich zerstören die neuen Wesen die Erde, um ihre Körper zu verlassen und im Weltgeist, dem Overmind, aufzugehen.

Eine alte Frage der Menschheit: Wo geht die Reise hin? Diverse Religionen beantworten diese Frage für das Individuum: Nach dem Tod geht’s in den Himmel, die Hölle oder aber auch ins Nirwana, ins Allbewusstsein.

Seit Darwins Lehre der Evolution im Bewusstsein der Menschen angekommen ist, wird diese Frage auch im Hinblick auf die gesamte Menschheit gestelltt. Ist Homo sapiens eine Sackgasse der Evolution oder wird er sich weiterentwickeln? Schnell verlässt man bei diesen Spekulationen die rein naturwissenschaftliche Perspektive und fragt nach Bedeutung und Sinn. Die Möglichkeit „Sackgasse“ verweigert sich der Sinnfindung: Was für eine „höhere“ Bedeutungsebene kann schon erreicht werden, wenn sich nichts ändert und irgendwann Schluss ist? Buddhistisch ausgedrückt: Immer nur Samsara und dann nichts mehr.

Somit bleibt als „erlösende“ Möglichkeit nur die Weiterentwicklung zu einer neuen Spezies. Hier lauert aber schon das nächste Problem: Wenn diese neuen Wesen  eine neue Art darstellen, geht dann nicht die gedankliche Einheit, die für die Sinnfindung unerlässlich ist, flöten? Wenn sich der „alte“ Mensch nicht mehr mit dem „neuen“ Menschen identifizieren kann, wie kann er dann letzteren als seine eigene Vollendung erfahren? Vermutlich nur in der Abstraktion, und reine Abstraktionen sind nicht sehr tröstlich. (Und für den „neuen“ Menschen geht das Spiel natürlich wieder von vorne los.)

Clarke scheint sich der Problematik bewusst gewesen zu sein, denn sein „neuer Mensch“ betritt recht abrupt die Bühne und bricht recht schnell jeden emotionalen Kontakt zur „alten Menschheit“ ab, zudem sind die „alten Menschen“ zum flotten Aussterben verdammt, da tatsächlich alle Kinder ohne Ausnahme zu „neuen Menschen“ mutiert sind. Man könnte also böse formulieren, dass Clarke sich um die Darstellung des problematischsten, aber auch des interesantesten Apekts seiner Spekulationen drückt und sich stattdessen in gut abgehangene religiöse Vorstellungen von Erlösung flüchtet. Die „neuen Menschen“ sind bei ihm im wörtlichen Sinne im Nirwana.

Offensichtlich ist Clarke sehr von Olaf Stapledons „Star Maker“ beeinflusst, der 1937 erschienen ist. Während aber Stapledon seinen Ausflug ins Menschheitsnirwana als die nächtliche Meditation seines Protagonisten organisiert und so rein philosophisch bleibt, fährt Clarke schweres SciFi-Geschütz auf. Die übermächtigen Aliens, die plötzlich auf der Erde auftauchen, alles kontrollieren und ohne weitere Erläuterung in eine von ihnen bestimmte Richtung lenken, könnte er aus Robert Wise’ „The Day the Earth Stood Still“ von 1951 haben. (Ein Klassiker des SciFi-Kinos mit ganz eigenen Problemen, aber dazu ein andernmal.)

Aber warum sich die Mühe mit den Aliens und den technischen Details machen, wenn man letztendlich nur eine weitere religiöse Vision von Erlösung produziert?
Ist es überhaupt sinnvoll, die Sehnsucht nach Aufhebung des Für-sich-Seins, das ja eigentlich ein Problem des Individuums ist, auf eine ganze Spezies zu übertragen?

Um Missverständnissen vorzubeugen: „Childhood’s End“ ist sprachlich und erzählerisch gelungen. Aber ich erwarte von Science Fiction, dass sie technische und sonstige Neuerungen sowie deren Einfluss auf die Gesellschaft/Menschheit/Erde/Galaxie behandelt und sie nicht nur als Handlungselemente einsetzt, um eine alte religiöse Fabel zu erzählen.

Mittwoch, 9. November 2011

Gut schimpfen

Allerorten wird sich über die deutsche Neigung, anal zu schimpfen, lustig gemacht. Dabei ist das Exkremente-Fluchen völlig nachvollziehbar. Kacke ist eben eklig und stinkt.

Viel befremdlicher ist da das Schimpfen mit sexuellem Vokabular. Sätze wie „Ich fick dich!“ reflektieren das alte Machtprivileg der Penisträger. Hier wird das Vögeln als Machtdemonstration gedeutet, wobei die Rollen klar verteilt sind. Unangenehm nahe dran an diesem Gedankengang ist auch das homophobe und frauenfeindliche: „Es ist nur schwul, wenn man sich ficken lässt.“ (Ist Homophobie eigentlich notwendigerweise durch Mysogenie bedingt?)

Also lieber anal fluchen. Aber was funktioniert da am besten?

Scheiße: der Klassiker, immer noch hübsch ungehobelt und vulgär, geht immer

Kacke: leicht abgeschwächte Scheiße, bekommt etwas Spielerisches durch die Lautabfolge (2 x K = lustig), macht Spaß

Mist: Harmlos, aber rustikal (lässt einen an den dampfenden Misthaufen auf dem Bauernhof denken, auf dem man damals mal Urlaub gemacht hat)

Mistikack: süß, oder?

Schiet(e): je nach dem, in welchem Umfeld man es benutzt, eventuell etwas schwächer als Scheiße, aber originell durch die regionale Einfärbung (sehr stilvoll auch das wienerische „Geh schaßen!“)

Arsch: wird sehr kreativ eingesetzt: es gibt das passende Adjektiv dazu (arschig), mancher benutzt ihn als Neutrum („Dieses alte Arsch!“), oder man ist faul und degradiertt ihn unverändert zum Adjektiv („Nee, das kann man nicht machen, das ist arsch.“ Aber was wäre dann die Steigerung? Ärscher, am ärschesten?)

Arschloch: präziser als Arsch, vielleicht etwas altbacken, passt aber durch seine Zweisilbigkeit in manchen Sätzen besser als Arsch (Sprachmelodie!)

Popokacke: erstaunlich effektiv, da mit extra Herablassung („Ich benutze eure infantile Ausdrucksweise, damit ihr mich auch versteht.“)

Kinderkacke: Gegenpol zu Popokacke, man will als infantil herabwürdigen, hat dann aber Angst vor der eigenen Courage und benutzt das „erwachseneren“, „gebildeteren“ Wort

Kackscheiße: Scheiße bleibt Scheiße, das wird mit diesem pleonastischem Kompositum auch nicht schlimmer; es wirkt eher hilflos, so als ob man der eigenen Wortwahl nicht traute

Dünnschiss: flutscht genauso aus dem Mund wie aus dem Hintern, das perfekte Wort

(verbaler) Durchfall: die feine englische Art, kann mit gelangweiltem Gesichtsausdruck und nuschelnd vorgetragen optimal herablassend wirken

Dünnpfiff: irgendwie … pfiffig (ha!), aber deutlich schwächer als Dünnschiss

Dass beim Schimpfen noch einiges drin ist, zeigt Stephen Fry.

Lobende Erwähnung: superkackeeklig